RAW-GELÄNDE BERLIN

In seiner über 150-jährigen Geschichte ist auf dem RAW-Gelände in Berlin Friedrichshain viel passiert. Während früher im Reichsbahnausbesserungswerk Züge und Waggons der Bahn instandgesetzt wurden, begann in den 90ern die Zeit der Sub- und Soziokultur. Nach und nach eroberten freie Künstler*innen, Kulturschaffende, Clubs, Bars, Sporteinrichtungen, kreative und soziale Vereine das Gelände und machten das RAW Friedrichshain zu einem der bekanntesten Kulturorte Berlins. In diesem Artikel möchten wir über die Geschichte und die Entwicklung des RAW Geländes berichten. 

 

Die Bahn und die RAW-Gelände Berlin Geschichte

Die Geschichte des heutigen RAW Areals in Berlin beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit fiel der Startschuss für den Bau eines Werkes zur Instandsetzung von Lokomotiven und Waggons vor den östlichen Toren der wachsenden Großstadt Berlin. Das Projekt wurde zeitgleich mit dem Bau des alten, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Ostbahnhofes (heute als Wriezener Bahnhof bekannt) geplant, in dessen Nähe die Werkstatt liegen sollte. Am 1. Oktober 1867 wurden sowohl der Bahnhof als auch die Königlich-Preußische Eisenbahnwerkstatt Berlin II auf dem heutigen Areal des RAW eröffnet. In den folgenden 20 Jahren entwickelte sich die Werkstatt zu einem Großbetrieb mit etwa 600 Arbeitern. Mit der Eröffnung der Berliner Stadtbahn einschließlich des nahe gelegenen Bahnhofes Warschauer Straße und der damit verbundenen Entwicklung des Berliner Nahverkehrsnetzes ab 1882 wurde das Gelände erweitert. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg so die Beschäftigtenzahl des Werkes auf 1.200.

Veränderungen durch zwei Weltkriege

Während nach dem Ersten Weltkrieg der Industriepalast lediglich einen neuen Namen erhielt und nun Reichsbahnausbesserungswerk Berlin Revaler Straße hieß, veränderte der Zweite Weltkrieg das RAW-Gelände stark. 80 Prozent der Gebäudesubstanz des Werks wurden zerstört. Während der Bereich rund um die Schienentrasse fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht wurde, hielt der Gebäudezug entlang der Revaler Straße einschließlich der Geländemauer den Bomben der Alliierten vom Februar 1944 stand. Heute stehen die Mauer, das Haupttor und einige der nicht zerstörten Gebäude des RAW Berlin unter Denkmalschutz.

Nach dem Krieg veranlasste die sowjetische Besatzungsmacht den Wiederaufbau des Werks. So wurde das RAW zu einem typischen DDR-Betrieb. Neben einem Speisesaal, Parks, einer Schießanlage, Aufführungssälen und einer Bibliothek gab es ab 1974 auch eine Gaststätte mit dem Namen RAW Club auf dem Gelände. Zum hundertjährigen Betriebsbestehen im Oktober 1967 erhielt das Reichsbahnausbesserungswerk den Beinamen des in Dachau ermordeten bayrischen Kommunisten Franz Stenzer. Im Zuge dessen wurden auch zwei Gedenksteine mit den Namen Stenzers und des ehemaligen KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann auf dem RAW-Gelände aufgestellt. 

Die Deutsche Bahn macht das RAW zur Brache

Nach der Wende ging das RAW „Franz Stenzer“ in den Besitz der Deutschen Bahn über. Diese fand allerdings keine Verwendung für das veraltete Ausbesserungswerk mit seinen 934 Arbeitskräften. Am 31. Oktober 1991 gab die Bahn die schrittweise Stilllegung des Werks bis 1994 bekannt. Am 7. Oktober 1993 verließ schließlich der letzte instandgesetzte Güterwagen das Reichsbahnausbesserungswerk an der Warschauer Str. Lediglich ein kleiner Teil im Südosten des Berliner RAWs wurde danach noch zur Instandsetzung von Zügen genutzt. Seit Mai 1994 repariert das spanische Bahntechnikunternehmen Talgo dort Nacht- und Hotelzüge. Bis heute beschäftigt die Talgo Deutschland GmbH rund 100 Arbeitnehmer*innen.

 

Der RAW-tempel Berlin belebt das Gelände neu

Mit dem Ende des Ausbesserungswerks begann die Natur das Berliner RAW-Gelände zurückzuerobern. Fünf Jahre war das Gelände an der Revaler Straße fast völlig menschenleer. Lediglich illegale Partys, Foto- und Abenteuerausflüge wurden auf der etwa 71.000 Quadratmeter großen Brache veranstaltet. Das änderte sich erst gegen Ende des Jahrtausends, als eine Gruppe von Künstler*innen, Vereinen und Anwohner*innen des sich verjüngenden Boxhagener Kiezes sowie aus dem nahe gelegenen Kreuzberg die Idee hatten, aus der Brache an der Warschauer Brücke eine Art Künstlerdorf zu machen. 1998 gründete sich der RAW-tempel e.V., in dem rund 30 dieser Projekte mitwirkten.

Zwischennutzungsverträge und Beteiligungsverfahren

Mit Unterstützung des Bezirksamtes Berlin-Friedrichshain konnte der RAW-tempel Berlin 1999 eine dreijährige Zwischennutzung erreichen. Diese galt für die vier denkmalgeschützten Gebäude an der Revaler Straße (ehemaliges Verwaltungsgebäude, Beamtenwohnhaus, Ambulatorium sowie Stoff- und Gerätelager) und einen Bereich von rund 8.800 Quadratmetern. Im Juli des Jahres zogen so einige Kunst- und Kulturprojekte auf das RAW. Einer dieser Projektpartner war der Verein workstation ideenwerkstatt. Dieser organisierte 2001 das Bürgerbeteiligungsverfahren „RAW Ideenaufruf“ mit dem Ziel, das Gelände zu einem anwohnerfreundlichen, kommerzfreien Paralleluniversum zu entwickeln. An dem Verfahren beteiligten sich etwa 1.800 Friedrichshainer*innen.

Noch vor dem Ende des Zwischennutzungsvertrages kündigte die Bahntochter Vivico Real Estate GmbH, die die Geländeverwertung übernommen hatte, die Vertragsauflösung und die Bebauung des RAW Geländes an. Der geplante Rauswurf des Vereins konnte aber dank der Solidarität in der Bevölkerung und durch Unterstützung der Politik verhindert werden. 2002 handelte der Verein so eine erneute, diesmal zehnjährige Zwischennutzung für das Stoff- und Gerätelager aus. Die Nutzung der anderen drei Gebäude wurde zunächst geduldet. So konnte das weitere Bestehen des Paralleluniversums auf dem RAW gesichert werden.

Die Professionalisierung des RAW-tempels

Mit der Zwischennutzung ging die Professionalisierung des RAW-tempels einher. Ein Teil der Projekte auf dem Friedrichshainer RAW-Gelände meldeten ein Gewerbe an. So wurden bis 2002 etwa 20 Arbeitsplätze (z. B. Zirkustrainer*innen, Vereinsangestellte und ein Mitarbeiter bei der Trommelwerkstatt) geschaffen. Daneben konnten Fördermittel zur Instandsetzung des Stoff- und Gerätelagers eingeworben werden. Damit begann der Aufbau eines soziokulturellen Projekte- und Kulturzentrums mit Kinderzirkus, Musikschule, Theatergruppen, Vereinscafé, diversem Kleingewerbe, Vereinen, einer Ökogruppe, Ateliers, Werkstätten, Proberäumen, zwei Kulturstätten (Franz-Stenzer-Halle und Ambulatorium) und über 50 Projektpartner*innen.

 

Das RAW-Gelände in Berlin als privates Kapitalobjekt

Mit der Ankündigung des Bebauungsvorhabens durch die Vivico begann das Berliner RAW-Gelände in Friedrichshain zu einem Politikum zu werden. Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen Bezirkspolitik und Eigentümerin wurde 2004 ein Bebauungsplan für das Gelände beschlossen. Zur Überraschung aller unterzeichnete die Vivico diesen aber nicht und entschloss sich stattdessen, das RAW Friedrichshain zu verkaufen. 2007 ging das Areal für vier Millionen Euro an die private Immobilienfirma R.E.D. Berlin Development GmbH.

Inzwischen hatten sich neben dem RAW-tempel e.V. einige neue Kultur- und Sporteinrichtungen auf dem Gelände angesiedelt. Im März 2005 öffneten die Skatehalle Berlin, ein Jahr später der Club Cassiopeia sowie der Kletterturm Der Kegel und wieder ein paar Jahre später das Freiluftkino Insel und der Biergarten an der Skatehalle ihre Pforten. Nach und nach wurden so immer mehr gesperrte Geländeteile der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Teilung des Geländes

Währenddessen versuchte die R.E.D. einerseits mit dem Bezirk einen neuen Bebauungsplan auszuhandeln, während sie andererseits ein Zwischennutzungskonzept über zehn Jahre für das komplette RAW ausarbeitete. Zu einer Bebauung sollte es allerdings nicht kommen. Zu unprofessionell wurden die Verhandlungen geführt. Dazu kam ein zermürbendes Verhalten gegenüber den soziokulturellen Akteuren auf dem Gelände. Der RAW-tempel wurde ständig vor neue Tatsachen gestellt. Einer Nutzungsuntersagung folgte ein zehnjähriger Mietvertrag für drei der vier genutzten Häuser, welcher kurz darauf wieder gekündigt wurde. Im Oktober 2012 kam es schließlich zu einer Spaltung der R.E.D. in deutsche und isländische Investor*innen. Beide verkauften ihren Besitz 2016 größtenteils. Damit war auch die Spaltung des RAW Geländes besiegelt. 

Der RAW-tempel geht pleite

Im Jahr 2015 musste der RAW-tempel e.V. Insolvenz anmelden. Interne Probleme, ein verpasster Generationswechsel und der Umstand, dass aufgrund fehlender Mietverträge keine Fördermittel für die Häuser beantragt werden konnten, hatten den Verein in den Ruin getrieben. Kurzzeitig übernahm der Kultur- und Demokratieverein Clof e.V. den Generalmietvertrag für das Stoff- und Gerätelager vom RAW-tempel, zuständig für die Interessenvertretung nach außen waren der neu gegründete RAW//cc e.V. und die Initiative RAW.Kulturensemble. In der Folge wurden nur noch Einzelmietverträge mit den jeweiligen Projektpartner*innen des soziokulturellen Zentrums geschlossen.

Die Zeit, in der die R.E.D. Eigentümerin des Geländes war, veränderten das RAW nachhaltig. Grünflächen wurden gerodet, das Ambulatorium aus dem soziokulturellen Zentrum entfernt und weitere Teile des Geländes an Gewerbetreibende vermietet. So kamen bis 2010 die Clubs ASTRA Kulturhaus, Suicide Circus und M.I.K.Z., eine Kampfsportschule und ein Getränkegroßhändler auf das Gelände. Später folgten die Bar Zum schmutzigen Hobby, die Clubs Crack Bellmer, Der Weiße Hase und Badehaus, das Restaurant Emma Pea, das Urban Spree, der Schwimmbadclub Haubentaucher, der RAW Flohmarkt und viele weitere. Aus dem ehemaligen Bahngelände an der Warschauer Straße wurde so nach und nach ein beliebter Ausflugsort, der über die Grenzen Berlins hinaus Strahlkraft entwickelte. 

 

Das RAW Berlin Friedrichshain heute

Heute ist das RAW das größte zusammenhängende Gelände Deutschlands, das permanent kulturell bespielt wird. Als einer der touristischen Hotspots Berlins für Streetart, Techno Clubs und Nachtleben besuchen das RAW-Gelände in unmittelbarer Nähe zur Warschauer Brücke tagtäglich Kinder, Jugendliche und Erwachsene verschiedenster Nationen. Fotos des RAW gehen um die ganze Welt. Die große Präsenz der Partyszene in der Öffentlichkeit hat aber auch seine Schattenseiten. In der öffentlichen Wahrnehmung gehen die spannenden soziokulturellen Projekte, die sich auf dem RAW befinden, häufig unter. Dabei arbeiten in dem ehemaligen Industriepalast noch heute über 100 Menschen in Werkstätten, Ateliers, Vereinsräumen und Sportstätten daran, dass das RAW-Gelände den Friedrichshainer Kiez mit niedrigschwelligen Kunst-, Kultur- und sozialen Angeboten bereichert.

Soziokultur auf dem RAW

Zu den soziokulturellen Projekten, die sich noch heute auf dem Gelände befinden, gehören neben der Skatehalle, dem Kletterkegel, dem Cassiopeia und dem Biergarten unter anderem der Kinderzirkus Zack, der Artist*innenverein Vuesch e.V., der Musikverein Tune up e.V., das Kulturkollektiv Kollegen 2,3, der RAW//cc e.V., die Musikschule t.raumstation, die Theatergruppe Ratten07, die Geschichtswerkstatt_RAW, das Bürgerradio RedereiFM, die Heimat der LGBTQ-Szene Bar Zum schmutzigen Hobby, die Kultur- und Tanzbar Crack Bellmer, das vegane Restaurant Emma Pea, der Verein für interkulturelle Jugendarbeit Drop In e.V., der Ausstellungs- und Caféraum R.A.W. Café, das Kochkollektiv Gerüchteküche sowie viele künstlerische Kleingewerbetreibende.

Die drei Eigentümer*innen

Bei den Besitzverhältnissen hat sich nach erneutem Eigentümer*innenwechsel die Dreiteilung des Geländes erhalten. Während der östliche Geländeteil einschließlich des Talgo-Geländes im Besitz der Münchener International Campus AG ist, sind die Besitzverhältnisse des kleinsten Teils des RAW Geländes um den Club Badehaus aktuell unklar. Den mit fast 52.000 Quadratmetern größten Bereich im Westen des RAW hält die Göttinger Kurth Immobilien GmbH. Auf diesem liegen sämtliche Gebäude, die früher dem RAW-tempel zugeordnet waren. Zusammen mit dem Bereich um die Skatehalle, den Kletterkegel und das Cassiopeia bilden sie das Soziokulturelle L. Im Jahr 2019 installierte die Kurth-Gruppe hier das House of Music, in welchem unter anderem temporäre Proberäume angemietet werden können. Auch der beliebte RAW Flohmarkt findet sonntags auf diesem Geländeteil statt.

Auf den drei Geländeteilen gibt es derzeit hinsichtlich der Zukunftsplanungen keinen einheitlichen Stand. 2018 hatte das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg Eigentümer*innen und interessierte Bürger*innen eingeladen, Ideen für den Standort zu entwickeln. In drei Dialogwerkstätten unter dem Namen “RAW 2040 - Zukunft konkret” wurde ein Anforderungskatalog für die Bebauung entworfen. An den Verfahren nahmen Vertreter der IC- und der Kurth-Gruppe teil. 2019 erhielt die Kurth Immobilien GmbH von der Bezirksverordnetenversammlung den notwendigen Aufstellungsbeschluss für einen Bebauungsplan. Dieser wird aktuell in einem Masterplanverfahren ausgearbeitet. Die Auftaktveranstaltung dazu fand am 3. November 2021 im Astra Kulturhaus statt. Die anderen Eigentümer*innen konnten noch keinen Aufstellungsbeschluss erzielen.

Die Gründung der RAW Kultur L e.G.

Als die Immobiliengruppe der Familie Kurth ihr Bebauungsinteresse ankündigte, bildete sich auf dem RAW Berlin eine Interessenvertretung eines Teils der Nutzer*innen. Im März 2018 gründeten diese die Kulturgenossenschaft RAW Kultur L. Die RAW Kultur L e.G. sorgt für die Öffentlichkeitsarbeit des Soziokulturellen Ls, vernetzt die soziokulturellen Projektpartner*innen und realisiert kulturelle Projekte. Zudem ist sie eine der Ansprechpartner*innen für Politik und Anwohner*innen. Die drei denkmalgeschützten Häuser, in denen über 60 Kunst- und Kulturprojekte beheimatet sind, haben sich zu dem basisdemokratisch organisierten Soziokulturellen Projekte Zentrum (SKPZ) zusammengetan. Das SKPZ kümmert sich um die Selbstverwaltung der Häuser und ist ihre Stimme innerhalb des Soziokulturellen Ls. In Verhandlungen mit Politik und Eigentümerin konnten Mieter*innen des Soziokulturellen Ls dessen Erhalt nach der angestrebten Bebauung im Aufstellungsbeschluss verankern.

Weitere Infos über die Geschichte des RAW-Geländes findet ihr auf der Website der Geschichtswerkstatt_RAW.